Wir dürfen nicht privat bleiben

Das Unternehmerinnen-Netzwerk beteiligt sich an der Brandenburgischen Frauenwoche 2022 mit einer Blogreihe zum Thema Gehen oder Bleiben. Eine Einleitung zum Thema finden Sie in der Vorstellung unserer Blogreihe.

Wir dürfen nicht privat bleiben

von Katharina Tolle

Gehen oder bleiben – das Motto lässt wohl viele Frauen leider zynisch mit den Augen rollen in einer Zeit, in der wegen eines Lockdowns jeder einzelne Gang vor die Tür gerechtfertigt werden muss: Vor anderen und vor sich selbst. Im Englischen könnte „go or stay“ problemlos erweitert werden: go crazy or stay sane, also Verrücktwerden oder den Verstand behalten.  

Gehen muss man sich leisten können

Viele Entscheidungen wurden uns abgenommen in den vergangenen anderthalb Jahren. Manche Menschen empfanden und empfinden die Situation so heftig, dass sie nun in der Tat darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen. Doch wie so häufig ist dieser Eskapismus denjenigen vorbehalten, die über genügend Ressourcen verfügen. Nur mit genügend Geld lässt es sich auswandern. Nur mit genügend Raum ist es eine Wohltat, sich in die eigenen vier Wände zurückzuziehen. Nur mit finanzieller Sicherheit lässt sich ein Herunterfahren der Wirtschaft überstehen.

Wer kein Geld für einen Neuanfang hat, bleibt gezwungenermaßen. Das gilt für Frauen, die keinen Platz in Frauenhäusern finden; es gilt aber genauso für Familien, die keine größere Wohnung finden. In der Pandemie einen unliebsamen, vielleicht sogar ausbeuterischen, Job aufzugeben, ohne Aussicht auf andere Beschäftigung, können sich viele nicht leisten.

Wie viele Menschen in der Pflege würden ihren Beruf noch ausüben, wenn sie einfach hunderttausend Euro auf ihr Konto überwiesen bekämen? Gingen sie dennoch zur Arbeit, weil sie diese so sehr lieben? Oder würden sie das Geld für einen Neuanfang nutzen – in einem System, das ihre Arbeitskraft nicht schamlos ausnutzt, sondern sie stattdessen wertschätzt?

Vom Luxus freier Entscheidungen

Auch für mich persönlich ist es ein Luxus, gehen zu können. Ich bin vor einigen Jahren gegangen: Aus Berlin, aus einem Vollzeitjob. Nach Oberhavel, in eine Teilselbstständigkeit. Der Schritt war möglich, weil ich die finanziellen Sicherheiten hatte, meine Rechnungen auch dann begleichen zu können, wenn ich nicht sofort viel Geld verdienen würde.

Während ich immer noch Teilzeit angestellt bin und dort in vorgegebenen Wegen laufe, muss ich mich in der Selbstständigkeit zwangsläufig häufiger entscheiden: Wohin will ich gehen? Will ich Kleinunternehmerin bleiben? Will ich zu einer teuren Fortbildung gehen? Selbstständigsein erzieht zur Eigenverantwortung: Es gibt wesentlich weniger vorgeschriebene Wege. Wesentlich häufiger ist Eigeninitiative gefragt.

Zwangsläufig führt das dazu, auch in anderen Bereichen des eigenen Lebens häufiger Entscheidungsmöglichkeiten zu sehen. Vielleicht scheint es, als machte ich vieles einfach genauso wie andere Menschen. Doch sind viele Entscheidungen sehr bewusst getroffen, statt einfach nur von anderen übernommen.

Zeit und Ruhe für Gedanken haben nicht alle

Das tut gut und ist gleichzeitig auch sehr anstrengend. Denn mit der Möglichkeit, zu entscheiden, kommt die Verpflichtung, sich Gedanken zu machen. Manchmal wünsche ich mir, dass mir jemand einfach den richtigen Weg nennt. Dass mir jemand sagt, ob ich gehen oder bleiben soll. Doch auch, wenn ich von vielen Menschen Tipps, Anregungen und Meinungen hören kann: Entscheiden muss ich doch immer selber. Zeit und Ruhe zu haben, sich diese Gedanken zu machen, ist wiederum ein Luxus, den lange nicht alle Menschen in meinem Umfeld genießen.

Für mich persönlich stellt sich die Frage, ob ich gehe oder bleibe, in kleinen wie großen Kontexten täglich. So geht es wohl auch vielen anderen. Das Problem ist nur: Je größer der Kontext, desto weniger Menschen haben die Möglichkeit, diese Entscheidung wirklich treffen zu können.

Gesellschaftliche Ungleichheit entscheidet über Gehen oder Bleiben

Ich wünsche mir deshalb von dieser Frauenwoche unter dem Thema „Gehen oder Bleiben“, dass wir die systemischen Fragen in den Vordergrund stellen: Was befähigt Menschen dazu, in den wirklich wichtigen und langfristigen Fragen nicht nur theoretisch entscheiden zu können, sondern auch die Mittel zu haben, diese Entscheidung in die Tat umzusetzen? Gesellschaftliche Ungleichheit führt dazu, dass manche gehen können, wo andere bleiben müssen; und dass manche bleiben können, wo andere gehen müssen. Je marginalisierter eine Person oder eine Gruppe ist, desto weniger wird die Entscheidung vom eigenen Willen abhängen, und umso mehr davon, was die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorgeben.

Es ist an Politik, Gesellschaft und an jeder und jedem einzelnen von uns, auf eine Gesellschaft hinzuwirken, in der alle Beteiligten diese Frage für sich beantworten können, ohne die Antwort aufgrund der äußeren Umstände bereits zu kennen. Die Frauenwoche kann diese Probleme nicht lösen, aber sie kann einmal mehr zeigen: Persönliches Engagement ist wichtig und großartig. Langfristig können wir aber nur etwas verändern, wenn wir unsere Gesellschaft in die richtige Richtung lenken. Insofern muss diese Frauenwoche ausstrahlen auf die große Politik. Um das Thema nochmals aufzugreifen: Wir dürfen nicht privat bleiben. Wir müssen an die Öffentlichkeit gehen – und vielleicht auch noch stärker als bisher in die Politik.

Katharina Tolle schreibt — am liebsten über Geburten, Feminismus und Unternehmerinnen. Oder alles drei zusammen.

Und sie liest — am liebsten über Geburten, Feminismus und Unternehmerinnen. Oder alles drei zusammen.

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Beiträge im Blog:

Katharina Tolle, Autorin von individuellen Geburtsgeschichten, Coach für selbstbestimmte Geburten und Bloggerin zum Komplex Geburten, Feminismus und Selbstständigkeit.

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