Eine Frage der Treue
Das Unternehmerinnen-Netzwerk beteiligt sich an der Brandenburgischen Frauenwoche 2022 mit einer Blogreihe zum Thema Gehen oder Bleiben. Eine Einleitung zum Thema finden Sie in der Vorstellung unserer Blogreihe.
Eine Frage der Treue
von Dagmar Möbius
Gehen oder Bleiben?Die Frage stellt sich jeden Tag. Für alles. Aber sie ist unvollständig.
So wie es nicht nur Schwarz oder Weiß gibt, so ist für die meisten Frauen weder Gehen noch Bleiben eine echte Option. Wohin sollen sie denn gehen, wenn sie Kinder zu beschulen, Partner zu bekochen oder sonstige Angehörige zu versorgen haben? Wenn sie – wie ich – zum größten Pflegedienst der Nation gehören und sich als einer von 4,7 Millionen Menschen um mindestens eine pflegebedürftige Person kümmern. Und dabei nicht selten auch noch mit Kostenträgern über die Anerkennung eines Pflegegrades streiten müssen.
Die Pflege krankt an fehlender Anerkennung
Auch beruflich ist die Frage nicht einfach zu beantworten. Wie viele Pflegekräfte und Angehörige von Heilberufen haben ihren Job seit Pandemie-Beginn verlassen? Allein zwischen April und Juli 2020 waren es 9.000 Pflegekräfte. Seit den 1990-er Jahren werden etwa 335.000 Pflege-Aussteiger gezählt. Ich gehöre dazu. Im Vorjahr kam eine viel diskutierte Studie eines Verbandwarenherstellers zu dem Schluss, jede zweite Person würde zurückkehren. Auch ich wurde mehrfach dazu aufgefordert. Aber die Bedingungen reizen mich definitiv nicht.
Dabei ist der Mangel überall spürbar: Ganze Stationen in Kliniken und Heimen sind geschlossen, weil Personal fehlt. Angehörige finden keinen Pflegedienst, weil die existierenden überlastet sind. Die Zahl der durch Behandlungsfehler geschädigten oder gar verstorbenen Patient*innen ist gleichbleibend hoch. Es muss sich im Gesundheitswesen sehr viel ändern, damit es wieder zu einem attraktiven Arbeitsfeld wird. Nicht nur finanziell, auch und vor allem in puncto Anerkennung und Respekt.
Idealismus trifft Verantwortung – die Frage nach dem Sinn
Ich schreibe nicht nur darüber. Seit anderthalb Jahren unterrichte ich zusätzlich angehende Pflegekräfte, denn auch die Lehrkräfte sind knapp. Ein bisschen zurückgekehrt oder im Pflegedienst geblieben bin ich also doch. Mehr als einmal überlegte ich, ob ich den zeitlichen und organisatorischen Aufwand auf Dauer schaffen kann und will. Aber ich wünsche mir, dass junge motivierte Pflegerinnen und Pfleger möglichst lange im Beruf bleiben. Also bleibe ich und gebe mein Wissen und mein Herzblut für meine einstige Berufung weiter.
Bleibe ich selbstständig? Gehe ich (wieder) aus dem Angestelltendasein? Was will ich wirklich? Das ist die einzig wichtige Frage, die ich mir regelmäßig stelle. Wenn es sein muss, ändere ich etwas. Zeit und Sinn sind meine Hauptkriterien, wenn es um Gehen oder Bleiben geht.
Ich möchte nicht stehenbleiben. Das heißt nicht, dass ich gehen muss. Allerdings möchte ich mich bewegen. Ständig. Neues lernen, die Komfortzone verlassen, mich entwickeln. Es gehört dazu, dass ich Dinge bleiben lasse, wenn sie mir Zeit rauben. Newsletter, die ich nie bestellt habe. Fernsehen. Destruktive Gespräche. Fruchtlose Kämpfe.
Über den Schatten springen bringt viel
Apropos Komfortzone. Im letzten Winter war ich zum 50. Geburtstag einer Freundin eingeladen. Die erste echte Feier nach langer Zeit! Und das erste Jahr, in dem ich keinen nahestehenden Menschen betrauern musste. Trotzdem: Hunderte Kilometer in ein Lockdown-Bundesland fahren? 2G-Party mit Test? Lieber zu Hause bleiben? Die Entscheidung verschob ich von Tag zu Tag. Ganz entgegen meiner Gewohnheiten. Meinen abzuliefernden Auftrag arbeitete ich nachts ab, um mich spontan doch noch auf die Autobahn zu begeben. Meine Freundin freute sich wahnsinnig. Die Feier war gemütlich, herzlich und inspirierend. Alle Gäste waren gesund. Warum das meiner Freundin so viel bedeutete? Ihre Mutter war nur 49 Jahre alt geworden. Sie wäre gern noch geblieben.
Gehen oder Bleiben? Gehen und Bleiben. Für mich am ehesten: Gehen, um mir treu zu bleiben.
Und Du so?
Dagmar Möbius ist Journalistin und Autorin.
Sie recherchiert und schreibt vorrangig über Themen aus den Bereichen Gesundheit und Soziales für Zeitungen, (Fach-)Magazine und Onlinemedien. Sie erstellt Texte für Imagebroschüren und Webseiten, verwandelt Vorlagen in lesbare Formate und führt bei Bedarf Workshops durch. Seltener –
nur wenn ein Konzept sie überzeugt – berät, konzipiert und betreut sie die Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen.
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