Wut, Dorf-Tristesse und Schreiben als Lebenselixier
11. März 2023 Eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin besucht im Rahmen der Brandenburgischen Frauenwoche das kleine Dörfchen Kraatz bei Gransee. Angelika Klüssendorf liest aus „Vierunddreißigster September“. Das Publikum erfährt, warum sie sich als zornige Frau beschreibt, weshalb ihre Toten Internet haben, wie der Hut von Dean Reed in ihren Besitz kam und vieles mehr.
Angelika Klüssendorf kommt herein und ist sofort begeistert von Kamin und gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre in der Kunstkate Kraatz. Schon vor offiziellem Beginn werden am Feuer Gespräche mit heißem Quittensaft, Tee und Kaffee geführt. Sie informiert sich über die Brandenburgische Frauenwoche, die Aktivitäten des Unternehmerinnen-Netzwerks Oberhavel und staunt: „Das hier ist noch Brandenburg?“ „Ja, gerade so“, lacht Gastgeberin Manuela Röhken.
19 Uhr. Ohne große Vorrede beginnt die Lesung. „Mit einer Frau, die Hilde heißt“. Das erste Buchkapitel des 2021 erschienen Werks „Vierunddreißigster September“ führt in ein Dorf im Osten des Landes. Mit allerlei Skurrilitäten und Düsterness. Auch mit medizinischem Vokabular. Wozu das dient? Nur so viel: Warum verschwindet die lebenslange Wut eines Mannes mit einer lebensverkürzenden Krankheit? Und wie kommt Hilde, seine Frau, damit zurecht?
Angelika Klüssendorf erklärt die Teile des Buches. Ihre treibende Frage: Was unterscheidet Lebende von Toten? Das Werk thematisiert Schuld, Erkennen von Schuld und Wut. Hildes Mann kommt zu Tode. Warum, wird bis zum Schluss nicht erklärt. Aus Wut? Aus Barmherzigkeit? Mit diesen Fragen bleiben die Lesenden allein. Schließlich kommt der Tote zu Wort. Natürlich: Das funktioniert nur fiktional. Die Autorin lässt den toten Walter zum Ortschronisten werden. Er will herausfinden, warum er zeitlebens so wütend war.
,Es gibt in „Vierunddreißigster September“ auch viele schöne, helle und fröhliche Stellen. „Doch die machen nicht so viel Spaß beim Vorlesen“, schmunzelt Angelika Klüssendorf. Nach einer dreiviertel Stunde klappt sie das Buch zu und ist gespannt auf Fragen. Moderatorin Manuela Röhken fragt nach den bisher erschienenen Büchern, insbesondere der Trilogie, nach DDR-Erfahrungen der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin und Gründen für ihre Ausreise 1985. Das Publikum erfährt: Der ihr 2019 verliehene Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk ist ihr der liebste. Nicht nur, weil Angelika Klüssendorf anlässlich der Ehrung im Mittelpunkt einer dreitägigen Tagung in Tutzing stand, wie sie lachend berichtet.
Bis zum letzten Atemzug werde sie schreiben, verkündet die 64-Jährige mit dem bewegten Leben. Hätte sie das Schreiben nicht, würde sie wegziehen. Aus ihrem kleinen Dorf in Mecklenburg, wo „es nicht mal Luftverschmutzung gibt“. Märchen spielen seit der Kindheit eine Rolle in ihrem Leben. Die ging mit Extremerlebnissen einher. Autobiografisch beschrieben unter anderem im Buch „Mädchen“. Was „Brehms Tierleben“, „Das kluge Gretel“ und Weihnachtsgerüche damit zu tun haben und warum die Schriftstellerin im Räuber-Hotzenplotz-Club bei Facebook ist, verrät sie dem Publikum. Und dass sie ein zorniger Mensch sei.
Das führt zurück zu „Vierunddreißigster September“. Die Handlungen des Buches sind zeitlos und ortlos. Eine Erkenntnis aus Angelika Klüssendorfs Beobachtungen: „Frauen sind im Alter in der Regel alltagstauglicher.“ Arbeitslose Männer um die 50, 60, die sie nach der Wende im Osten Deutschlands, speziell in Mecklenburg, erlebte, kamen ihr – ganz anders als in ihrer Kindheit – melancholisch, hilflos und wütend vor. Diese Inspirationen der 1990-er Jahre flossen in den Roman ein. Und dennoch: „Es ist besser, sie sind wütend als resigniert“, so die Schriftstellerin.
Warum sie über Tote geschrieben hat, möchte ein Mann aus dem Publikum wissen. Darauf hat die Autorin eine klare Antwort: „Sie sollten noch einmal über ihr Leben nachdenken. Ich schicke Walter auf die Reise, damit er begreift, wie er gelebt hat. Meine Toten haben auch Internet und Fernsehen“, lacht sie. Um dann die reale Anekdote des im Buch verarbeiteten Besuchs eines Hollywood-Regisseurs zu erzählen. Und was ein Hut von Dean Reed in ihrem Besitz damit zu tun hat.
Als Rebellin fühle sie sich nicht, stellt sie auf eine Frage einer Zuhörerin klar. Auch wenn sie in der DDR mit ihrer Freundin Wiebke Untergrund-Kunstmappen („aus Langeweile vom Stillstand“) zusammenstellte und vertrieb, die Stasi sie für unberechenbar hielt und sie eine geplante Geheimaktion ihres Arbeitgebers auffliegen ließ. „Ich war grundfrech von Kindheit an“, lacht sie. Ein Effekt ihrer „Kellerzeit“, die sie gestärkt habe.
„Oh“. Kurze Pause. Luftholen. Befragt zum Thema „Macht und Geld“, muss Angelika Klüssendorf nachdenken. Die Schriftstellerin (Jahrgang 1958), die mit 30 ihr erstes Buch veröffentlichte und ihren Erfolg auch darauf schiebt, dass sie „jung und hübsch war“, sagt, dass es ihr heute gut gehe. Doch sie kennt auch Phasen, in denen sie kellnerte und Putzen ging. „Es gibt viel zu viele Bücher“ findet sie und: „Wenn man vom Schreiben nicht leben kann, kann man auch arbeiten.“ Ihr nächstes Buch „Risse“ erscheint im August 2023. Mehr will sie noch nicht verraten. Nur so viel: Es hat autobiografische Züge. Für Herbst 2025 ist ein weiteres Buch angekündigt. Und: „Vierunddreißigster September“ soll verfilmt werden.
Eine kleine, feine Veranstaltung, von der sich alle Beteiligten und Anwesenden noch lange erzählen werden.
Text und Fotos: Dagmar Möbius
[…] und las Angelika Klüssendorfs neuesten Roman „Vierunddreißigster September“. Wir hatten die vielfach preisgekrönte Autorin zu einer Lesung mit Diskussion im Rahmen der Brandenburgischen Fraue…. Erschienen 2021, führt das Buch in die Tristesse eines Dorfes irgendwo in Ostdeutschland. Die […]